ESC 2024 – 1. Halbfinale

Ich verspreche Besserung.

Nachdem ich es letztes Jahr verkackt hatte und nicht mal eine Finalabschätzung geliefert hatte, bin ich dieses Mal meiner Zeit voraus. Ich habe mir bereits alle Videos angesehen und sie bewertet. Meine Gedanken dazu fallen jedoch wesentlich kürzer aus. Um ganz ehrlich zu sein: Das hat auch damit zu tun, wie mainstream der ESC musikalisch geworden ist. (Okay, von Deutschland abgesehen, die ja weiterhin für die NDR-hörenden Rentner in Seniorenheimen Beiträge auswählen, die nachmittags beim Kaffee nicht weiter stören.) Und eines war schon vorher klar: Es würde nach Loreens Sieg im Vorjahr – mit einem schwächeren Song als „Euphoria“ 2012 – viiiiiiel Elektro geben.

Land

Radio

Show

Ergebnis

Zypern
Es geht schon nicht gut los. Die in Australien geborene Silia Kapsis läutet den ESC mit relativ egalem, modernem Pop mit hellenischem Einschlag ein. Die gute Nachricht: Sie könnte damit in einem schwachen ersten Halbfinale zum Samstag durchrutschen.
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Serbien
Es ist immer riskant, wenn der Song in der Radioversion mit Stimmeffekten abgemischt ist und beim ESC dann die pure Stimme zu hören ist. Wer es nicht glaubt, frage die, die – wie ich – von Mae Mullers „Instead I Wrote A Song“ letztes Jahr recht angetan waren und dann vom Auftritt enttäuscht wurden. Dieses Schlaflied erinnert mich etwas an „Sebi“ von Zala Kralj und Gašper Šantl aus dem Jahr 2019, nur dass ich das wirklich mochte. Allerdings könnte die emotionale Hallenatmosphäre den Titel ins Finale pushen.
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Litauen
Irgendwie verfehlt Litauen bei mir die Wirkung. Als Technopop-Song in Landessprache ist er mir zu unruhig, nicht gleichförmig genug, um ein Partyhit zu werden.
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Irland
Unruhig geht es weiter. Bambie Thug versucht edgy zu sein und mehr Kunstwerk als Lied zu liefern. Auch hier wirken zudem Stimmeffekte mit, was das Unterfangen Finale nicht gerade leichter macht. Vielleicht liegt es aber auch an mir, denn letztes Jahr habe ich ebenfalls den 15. Platz im 1. Halbfinale für den 4. Beitrag getippt. So wie den 11. Platz für den 3. Beitrag. Ich erkenne ein Muster. Allerdings änderte das Horrormusical live einiges:
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Ukraine
Schwer vorherzusagen, wie das ESC-Publikum im 3. Kriegsjahr drauf ist. Entscheidet die weiterhin vorhandene Unterstützung, die Kalush Orchestra zum Sieger kürte, oder ist die ESC-Gemeinde kriegsmüde? Es ist schwere Kost, die da aus Osteuropa kommt, gleichzeitig mit einem Rap-Teil. Und es geht um die durchaus umstrittene Mutter Teresa und die Jungfrau Maria, wofür der eher zur Queerfreundlichkeit neigende ESC vielleicht auch nicht unbedingt die richtige Zielgruppe ist.
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Polen
Weiter geht es mit dem Nachbarn. Von Luna kommt ziemlich durchschnittlicher Lala-Pop ohne Risiken, der insgesamt so sehr egal kommt, dass er glatt ein deutscher Beitrag sein könnte.
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Kroatien
Letztes Jahr der 7. Starter des 1. Halbfinals, dieses Jahr wieder. Letztes Jahr mit „Mama ŠČ“ ein ziemlich Gaga anmutendes Lied mit wenig schmeichelhaften Anspielungen auf Vladimir Putin, dieses Jahr erneut auf der Gaga-Schiene mit Rock auf der Käärijä-Welle des finnischen Vorjahreszweiten (und heimlichen Siegers, nicht nur für mich). Der Mitgröhl-Refrain dürfte sie ins Finale bringen. Bei den Bookies ist Kroatien allerdings Topfavorit…
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Island
Es scheint unheimlich in zu sein, nach Jahren eine:n alte:n ESC-Teilnehmer:in auszugraben und wieder hinzuschicken. Hera Björk hätte es lieber sein lassen sollen. Ich mochte „Je ne sais quois“ im Jahr 2010 in Oslo doch recht gern. Für diesen unterdurchschnittlichen Schlagertitel empfinde ich keinerlei Liebe. Auf Youtube bezeichnete ein Kommentator den Beitrag als Musik für „Tampon-Werbung“ – und das ist nicht von der Hand zu weisen. Schade.
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Slowenien
Woher kenne ich diesen Song? Vermutlich aus den Vorjahren, denn der slowenische Beitrag ist eine typische ESC-Balkanballade: dunkel, düster, schwer und dramatisch. Allerdings ist die Radioversion auch einer der besseren Beiträge eines schwachen ersten Halbfinals.
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Finnland
Nach dem wirklich spaßigen Vorjahresbeitrag, der zurecht Platz 2 erreichte, schickt das zwischen Depression und Wahnhaftigkeit wandelnde Land einen durchgeknallten Titel, der einzig auf Provokation aus ist. Musikalisch war das 1995 schon extrem billiger Elektropop. Aber es ist gar nicht mal klar, dass der nicht sogar zündet. Entweder einer der besten Konkurrenten – oder einer der schlechtesten.
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Moldau
Nein, auch nüchtern stehen da fünf Frauen, die identisch aussehen. Immerhin hat dieser durchschnittliche slawische Elektropop-Titel einen Mitklatschteil.
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Aserbaidschan
Noch ein Land mit der gleichen Startnummer wie im Vorjahr. Da sind sie rausgeflogen, und diese unverhohlene Verbindungssuche zum türkischen Teil der Identität, die in jüngster Zeit auf politischer Ebene beschworen wird, ist ebenfalls ein Wackelkandidat. So, wie Erdogan und Putin ihre Länder zu vermeintlicher früherer Stärke zurückführen wollen, scheint Aserbaidschan auch zu ticken. Früher waren sie moderner. Heute reicht es nur zu egalem Ethnopop.
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Australien
Für mich ist der australische Britpop mit Didgeridoo und Text in einer der Aborigine-Sprachen als ethnischen Komponenten nicht nur ein Siegkandidat für dieses erste Halbfinale, sondern durchaus auch Mitfavorit für das Finale. Die Wettbüros sehen das allerdings durchgehend anders, finden den Song nicht so frisch wie ich und platzieren ihn im Schnitt sogar unterhalb des deutschen Beitrags… Aber ich stehe zu meiner Meinung!
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Portugal
Denke ich an Portugal, dann denke ich an Fado oder an MARO und Salvador Sobral. Woran ich nicht denke, ist ein Song nach typischer ESC-Balkanballaden-Machart in portugiesischer Färbung. Der erste Teil ist sehr ruhig, insgesamt hat das Lied wenig Temperament.
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Luxemburg
Äh, was? Luxemburg? Ich war ungefähr genauso überrascht wie alle anderen, dass dieses kleine Land wieder dabei ist. Die letzte Teilnahme liegt 31 Jahre zurück. Niamh Kavanagh verteidigte den irischen Vorjahressieg mit „In Your Eyes“ (2010 kehrte sie mit „It’s For You“ zurück). Und Luxemburg verpasste mit „Donne-moi une chance“ von Modern Times die Qualifikation für’s nächste Jahr – ja, damals war das noch so. Damals musste auch noch in Landessprache gesungen werden, und die Münchener Freiheit landete auf Platz 18. Der diesjährige Beitrag ist auf Französisch und Englisch gesungen und kommt als generischer ESC-Pop daher, der seine lieblichen Seiten hat, aber auch Oftgehörtes präsentiert. Gefühlt könnte er auch aus Malta oder Israel stammen – Letzteres verwundert kaum, denn Sängerin Tali ist in Jerusalem geboren.
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Ich bin gespannt, wie das erste Halbfinale ausgeht. Ich werde dann diesen Beitrag um ein kurzes Fazit und die obige Tabelle um die Ergebnisse ergänzen.

[Update nach der Sendung:] Ich bin mit meiner Quote nicht zufrieden. Nach den Videos sind es nur 6 richtige Tipps gewesen, nach der Livesendung sind es immerhin die üblichen acht Finalisten. Und dennoch: Dass Australien rausfliegt, ist für mich eine riesige Enttäuschung. Aber auf der anderen Seite: Wenn sich mutmaßlich Kroatien, Slowenien und Serbien gegenseitig ins Finale voten, muss jemand rausfliegen. Und wahrscheinlich ist die Kultur der australischen Ureinwohner einfach zu weit weg von Europa – zumal viele kulturell eher konservativ zu nennende (oder zu verbrähmende) Länder wählen durften. Bei Irland hat’s vermutlich der Auftritt ins Finale gerissen.

Naja. Auf ins zweite Halbfinale am Donnerstag.